Was haben Bilder mit digitalem Kolonialismus zu tun? Digitaler Kolonialismus? Was soll das sein, wenn vielleicht noch nicht einmal geklärt ist, was Kolonialismus in unserer Gegenwart meint. Der historische Kolonialismus bedeutete seit Ende des 15. Jahrhunderts die von Europa (vor allem Spanien, Portugal, Grossbritannien, Deutschland, Frankreich) ausgehende, imperiale Eroberung von Territorien, die gewaltvolle Unterwerfung der in ihnen lebenden Menschen und die Ausbeutung der Bodenschätze. Bald schon verschränkte er sich mit der Klassifikation und Hierarchisierung entlang der eigens dafür hergestellten Kategorie race. Die Einteilung der Menschen in sogenannte «Rassen» und die Aufteilung dieser in eine Rangordnung, sollte die fortschreitende Ausbeutung vor allem moralisch rechtfertigen. Visuelle Ordnungen des Ausspähens, Eindringens, Exponierens und Rasterns sind unmittelbar mit der Herstellung dieser Rangfolge verbunden, ob in Kunst, Wissenschaft oder Populärkultur.

Und Kolonialismus heute? Er findet in Form sklavereiähnlicher Ausbeutung zum Beispiel in der Landwirtschaft statt oder durch Menschenhandel entlang genau dieser rassialisierten Aufteilung. Wir erleben, wie die Ressourcen entfernter Regionen für die Energieversorgung in Europa genutzt werden, sei es Sibirien für Gas oder Marokko für Solarenergie. Die imperiale Besetzung von Gebieten ist global betrachtet für den aktuellen Kolonialismus nicht mehr ganz so vordergründig, wohl aber der regional ungleich verteilte Raubbau an Mensch und Natur. Hier knüpft mein Begriff des digitalen Kolonialismus an. Denn für die Sicherstellung unserer digitalen Gegenwart mit all ihren Spielarten des Sinn- und Unsinnhaften werden Menschen, Landschaften und Rohstoffe vornehmlich ausserhalb Europas extrahiert. Das heisst es wird herausgezogen und eingenommen, was für den Markt digitaler Infrastruktur notwendig ist: seltene Erden, Arbeitskraft und die geografisch günstige Lage für zum Beispiel Datenserver.

Und die Bilder? Was haben Bilder heute damit zu tun? Das Selfie auf Instagram, die Urlaubsansicht im WhatsApp-Status, das Ergebnis der Google-Bildersuche?

Zuerst einmal haben wir es mit jedem online hochgeladenen Bild mit Daten-Kolonialismus zu tun. Beim Daten-Kolonialismus handelt es sich um eine Ökonomie des Abschröpfens und Handels mit Bild-Daten abseits der Möglichkeit, als Eigentümer_in dieser Bild-Daten Kontrolle über den Vorgang zu haben.[1] Waren es im Zusammenhang des historischen Kolonialismus Territorien und Körper, die geplündert wurden, sind es im Kontext digitaler Kultur auch Daten, die zum Rohstoff erklärt, extrahiert werden.

Unter den Schlagwörtern «automatisierte Ungleichheit», «Coded Bias» und «algorithmische Diskriminierung» wird wiederum lebhaft diskutiert, inwiefern Rechenoperationen rassistische und hetero-sexistische Stereotype im Umgang auch mit Bildern reproduzieren. Seien es durchweg sexualisierte und sexistische Bilder, die noch 2009 bei der Google-Suche nach «black girls» ganz oben aufschienen.[2] Sei es ein automatisch mit «Gorillas» getaggtes Bild zweier Schwarzer Freund_innen im Jahr 2015.[3] Und selbst da, wo wir Diversität in Bildern sehen und Differenz im Bild der vornehm lächelnden Schwarzen Frau positiv affirmiert scheint (z.B. wenn heute bei Google unter «black woman» gesucht wird), ist davon auszugehen, dass auch diese Darstellungen von den Vorurteilen derer beeinflusst sind, die den Code zum Beispiel für das Auffinden und Verschlagworten der Bilder schreiben.[4] Nur handelt es sich bei diesen Vorurteilen um positiven Rassismus, der auf das Stigma des «Edlen Wilden» zurückgeht. Durch die Hintertür der algorithmischen Bestimmung wird also koloniales Wissen fortgeschrieben. Und zwar nicht ‹nur­›, weil die Algorithmen rassistisch diskriminieren, wenn sie bestimmte Bilder priorisieren oder automatisch verschlagworten. Sondern auch weil sie an koloniale Logiken des Navigierens, Auffindens, Überwachens[5] und Klassifizierens gekoppelt sind. Dieser algorithmische Kolonialismus, wie ich ihn deswegen an dieser Stelle bezeichnen möchte, geht dabei nicht nur darauf zurück, dass es den Technologie-Unternehmen an Diversität mangelt. Er bezeugt vielmehr, dass sich Kolonialismus als System der Klassifikation und Hierarchisierung in das Denken, Wahrnehmen und Fühlen abgesenkt hat.[6]

Kolonialismus hat sich tief in das Bewusstsein hineingefräst, sodass er mitunter und insbesondere für die von ihm nicht negativ Betroffenen als solcher kaum mehr wahrnehmbar ist. Kolonialismus kann sozusagen als ökologisch verstanden werden, denn er ist zur oft nicht hinterfragten, natürlichen Umwelt der menschlichen Existenz und somit auch der digitalen Technologien geworden. Aufgrund dieser Ökologie des Kolonialismus tritt er selbst nicht immer ins Bild, wie ich zeigen werde. Er ist so selbstverständlich, dass selbst die tiefgreifenden Eingriffe in die Natur zur Erzeugung und Sicherstellung digitaler Infrastruktur und Vernetzung im Bild verschwinden. In Anlehnung an Mark Fisher ist es folglich «einfacher sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende» des Kolonialismus.[7]

Mit digitalem Kolonialismus meine ich eine über Fragen des Daten-Kolonialismus bzw. algorithmischen Kolonialismus hinausgehende Form des Eingriffs. Dieser schreitet in die Geologie bzw. Atmosphäre ein, in der Digitalität (z.B. im Kontext von Infrastruktur und Daten-Archivierung) mit kolonialen Machtverhältnissen verschweisst wird. In dieser Verbindung knüpft digitaler Kolonialismus gewissermassen am deutlichsten an den historischen Kolonialismus an. Denn mit ihr treten sehr wohl auch wieder Formationen der Okkupation von Land und Landschaft auf. Und vielleicht weil er so stark in dieser historischen Tradition betrachtet werden kann, scheint es einer visuellen Politik der Verschleierung, der Ästhetisierung und auch Betäubung, Anästhetisierung[8], des Bildes zu bedürfen. Wie visuelle Politiken an der Verharmlosung kolonialer Machtverhältnisse im Kontext von Digitalität arbeiten, werde ich an drei Beispielen verdeutlichen. Gleichzeitig sollen dekoloniale Ansätze der Visualisierung des digitalen Kolonialismus beispielhaft vorgestellt werden. Schliesslich gilt es eine alternative Perspektive, ein Aussen zu erzeugen und der Ökologie des Kolonialismus zu widersprechen.

An-Ästhetisierte Bilder der Extraktion
Kein digitales Bild ohne seine Umgebung, deren Teil Hardware ist, also das Tablet, das Smartphone, die Tastatur. Keine Insta-Selfie ohne die Erze, Mineralien und seltenen Erden, die für unsere Devices notwendig sind. Kein Facebook-Post ohne die Arbeitskraft, die es für den Rohstoffabbau braucht, und die Energie, die für die Förderung aufgewendet werden muss. Die für die globale Kommunikationsindustrie essenziellen Rohstoffe sowie Energie- und Arbeitskraftaufwendungen lassen sich nicht ohne koloniale Bedingungen verstehen. Wenn James Bridle schreibt, dass das Internet – die Cloud – mit Kohle beginnt,[9] dann darf er nicht verschweigen, dass deren Abbau in Regionen ausgelagert wird, die aufgrund der langen Geschichte ihrer kolonialen Unterwerfung noch immer versuchen, ökonomisch funktionierende Staaten aufzubauen. Wenn gesagt wird, Deutschland bräuchte mehr Minen, um den steigenden Bedarf der Elemente in den Technologien der digitalen Welt zu decken, dann muss auch erwähnt werden, wo sich diese Minen befinden und wer in ihnen arbeiten wird.[10] Die kolonialen Geschichten der Erz-Minen suchen zunehmend die technologische Gegenwart heim. Kein Grund, dies im Rausch des Rufs nach Digitalisierung und Breitbandausbau unkritisch zu goutieren.

Nehmen wir die Vergenoeg-Fluorit-Mine in Südafrika. Bekannt für zahlreiche Goldminen, die, mehrheitlich stillgelegt, heute nur noch «informellen Bergarbeitern» dazu dienen, einen Lebensunterhalt zu bestreiten,[11] wird Südafrika aktuell für den Abbau seltener Erden, dem «Gold des 21. Jahrhunderts»,[12] wiederentdeckt. In der Vergenoeg-Fluorit-Mine im Nordosten Pretorias finden sich Fayalit-Minerale, die durch bildgebende Verfahren mit atomarer Auflösung erfolgreich auf seltene Erden untersucht wurden. Diese sind für die Erzeugung von Smartphones essenziell. Der Bildgebung seltener Erden stehen visuelle Politiken gegenüber, die das hochaufgelöste Ausleuchten der Mine und die damit verkoppelten Auswirkungen auf Mensch und Umwelt unsichtbar machen bzw. ästhetisieren. Mit Blick auf die Startseite des Webauftritts [13] eines der Unternehmen, das Anteile an der Mine hat, sehen wir irreführende Inszenierungen Schwarzer Bergarbeiter als Ingenieure ihrer Zukunft und ihres guten Lebens. Dabei wird (visuell) verschwiegen, dass sich die gesamte Führungsriege aus chinesischen Managern zusammensetzt.

Webauftritt von Meteorex, 2021, Quelle:

Webauftritt von Meteorex, 2021, Quelle: http://www.metorexgroup.com/

Auf der Webseite [14] eines spanischen Unternehmens wiederum findet sich ein Anriss auf die Mine, der sie im Stil der Landschaftsmalerei wie eine Berglandschaft mit der Möglichkeit des Fernblicks erscheinen lässt.

Webauftritt von Minersa, 2021, Quelle:

Webauftritt von Minersa, 2021, Quelle: http://www.minersa.com/eng/vergenoeg_mining.php

Der einzige Hinweis auf die Extraktion, der Rohstoffausbeutung, für die dieses Bild steht, findet sich kaum ersichtlich im hinteren Bildraum und kann die Fördertechnologie nur andeuten. Dafür ist dieser Darstellung auf der Webseite ein zweites Bild hinzugefügt. Im Grössenverhältnis von Mensch und Förderanlage wird hier die Fixierung auf Technologie als Garant für digitale Infrastruktur deutlich – ganz im Sinne des westlichen Denkens, demzufolge technologischer Fortschritt die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt.[15] In der fehlenden Verfugung der Bilder, insofern als im linken Bild Landschaft von Technologie unberührt bleibt bzw. im rechten Technologie als Fetisch überdimensioniert und umweltlos perspektiviert wird, findet eine neue koloniale Durchdringung der Bildwissensproduktion statt.

Um das besser zu verstehen, ein Blick in die Kunstgeschichte. Der Kunsthistoriker Nicholas Mirzoeff beschreibt, wie im ausgehenden 19. Jahrhundert und der Hochphase der Industrialisierung Smog und dafür verantwortliche Technologien des Kohleabbaus in Städten wie London oder Paris der Landschaftsmalerei teilhaftig wurden, ohne der Schönheit und Erhabenheit des Bildes Abbruch zu tun.[16] Stilmittel wie die leicht erhöhte Perspektive, von der aus Szenen der Umweltverschmutzung dargestellt wurden, ermöglichten eine Ästhetisierung, die selektiv funktioniere, weil «imperialer Smog»[17] als positives Zeichen der Vitalität der modernen Metropole betrachtet würde. Hingegen würden Smogbilder des globalen Südens wie Indien als Ausdruck einer rückständigen Auffassung von Klimaschutz behauptet. Im Falle der Visualisierungen der Minen handelt es sich also um eine Verschiebung, die das Neue in der kolonialen Bildwissensproduktion digitaler Infrastrukturen darstellt. Die historische Ästhetisierung durch Stilmittel des Erhabenen, die die Verschmutzung in den Metropolen unschädlich machte, trägt sich unmittelbar in die Bildwelt des globalen Südens, hier Südafrika, ein, mit dem Zweck sie zu anästhetisieren und den Abbau zu legitimieren. Zu sehen ist so eine Landschaft, deren Ausschürfung selbstverständlich und bisweilen schön erscheint. Zumindest aber kontrollierbar. In diesem Sinne diskutiert T.J. Demos Luft- und Satelliten-Aufnahmen von Minen, die zwar Schäden dokumentieren, aber immer auch dazu dienen, den Betrachter_innen das Gefühl zu vermitteln, Kontrolle über das Zu-Sehende zu haben.[18] Entsprechend finden wir auch im Portfolio der Vergenoeg-Fluorit-Mine eine Luftaufnahme, in der sich die Technologie, an den Rand gedrängt, abermals harmlos ausnimmt. Entsprechend des Namens der Mine,[19] ermöglichen die Fotografien, asymmetrische Machtverhältnisse ‹weit genug› aus dem Sichtfeld hinauszudrängen.

Luftaufnahme der Vergenoeg-Fluorit-Mine in Südafrika, Vergenoeg Mining Company, Quelle: Mphonyana Modiselle, Review of the Fluorspar Industry in the Republic of South Africa, Report R95, 2011,

Luftaufnahme der Vergenoeg-Fluorit-Mine in Südafrika, Vergenoeg Mining Company, Quelle: Mphonyana Modiselle, Review of the Fluorspar Industry in the Republic of South Africa, Report R95, 2011, https://www.dmr.gov.za/LinkClick.aspx?fileticket=oIbLxC7lb1Q%3D&portalid=0

Das zuvor gezeigte Bildmaterial und der Umgang mit Bildern von Ausbeutung im digitalen Zeitalter verhindern regelrecht, sich ein realistisches Bild der globalen Lage zu machen. Welche Bilder ermöglichen es uns, diese Verzerrung zu erkennen und den Blick zu verschieben? Welche Bilder schaffen ein Aussen, das den Blick für die Narben freilegt, die mit der Extraktion entstehen? Mit der Fotografie der Künstlerin Zanele Muholi mache ich einen ersten Vorschlag, um der Frage nach einer dekolonialen und somit nicht verharmlosenden Bildrhetorik nachzugehen. Im Zentrum steht dabei eine in Körperlichkeit verankerte visuelle Politik. 

Mit der Inszenierung als Bergarbeiter_in erinnert Muholi nicht nur an die Geschichte des Bergabbaus zur Zeit der Apartheid in Südafrika, sondern an den südafrikanischen Bergarbeiterstreik 2012, der von der Polizei blutig niedergeschlagen wurde und dem 34 Menschen zum Opfer fielen. Die Fotografie, die als Teil der Serie 2018 Somnyama Ngonyama: Hail the Dark Lioness 2015 angefertigt wurde, lässt sich gleichzeitig als Ermahnung verstehen, Bergbau im Zuge der Digitalisierung nicht vorzeitig für obsolet zu erklären. Dabei ist es nicht nur der Blick, der diese Ermahnung ausspricht, es ist insbesondere auch die körperliche Präsenz und die mit der Haut transportierte Porigkeit, die Mensch und Mine als verletzlich ausweisen. Muholi übersetzt ins Bild, was Gloria Anzaldúa vorgeschlagen hatte. Selbst erkrankt, weil sie bei der Feldarbeit in jungen Jahren in Süd-Texas Herbiziden und Pestiziden ausgesetzt war und Wasser aus einem Fluss getrunken hatte, der mit Arsen von den Silberminen in der Nähe verseucht war, argumentierte Anzaldúa für eine Politik, die in körperlichen Dingen verankert ist und mit der Sprache der «Poren» und «Risse» in Haut und Gewebe beschrieben werden kann.[20] Ich verstehe Muholis porige Haut, die Falten unter der Brust und das fast schmierig erscheinende Gesicht als diese Sprache, die notwendig ist, um der Betäubung, Verharmlosung, also Anästhetisierung, entgegenzuwirken.

Das Internet ist nicht in den Wolken
Insbesondere die Rhetoriken kabelloser Kommunikation und dezentralisierter Netzwerke haben dazu geführt, digitale Kommunikation als von materiellen Bedingungen und Auswirkungen entkoppelt zu betrachten. Diese Rhetorik des Silicon Valley, die uns glauben machen möchte, das Internet sei schwerelos – wirelessness – wird von einer In-Bild-Setzung von Satelliten bzw. Bildern des Orbits begleitet.[21] Nicht nur ist die Fotografie Blue Marble eines der am meisten reproduzierten Bilder[22], sondern dominiert noch immer die Bildsprache des Universums unsere Vorstellung digitaler Vernetzung. Die Ergebnisse einer Bildsuchanfrage zum Schlagwort «Internet» bestätigt diese Behauptung mit einem Klick. 

Screenshot: Google, Bildersuche «Internet», 2021, Quelle:

Screenshot: Google, Bildersuche «Internet», 2021, Quelle: https://www.google.com/

Die vermeintlich kabellose Kommunikation beruht jedoch darauf, dass die Meeresböden von einem Netz an Glasfaserkabeln durchzogen sind. Die Routen dieser Kabel folgen denen der Telegrafenkabel, die wiederum den Routen der Sklavenschiffe folgen, welche seit dem 15. Jahrhundert für die Verschleppung von Versklavten genutzt wurden. Die digitale Kommunikation der Gegenwart folgt den Kartierungen früher kolonialer Geografien. Obwohl das Internet als Raum der sozialen Mobilität vermarktet wird, verläuft es entlang historischer und politischer Linien, die Ungleichheiten in seine DNA einbringen. Die Medienwissenschaftlerin Nicole Starosielski nennt dies die geografische Stagnation der digitalen Umgebung. Zu dieser rechnet sie auch die «konservative Natur der Kabelindustrie».[23] Weil für die Verlegung der Unterwasserkabel immer wieder auf altbekannte Installationstechniken zurückgegriffen wird, beruht digitale Infrastruktur gewissermassen auf dem mediengeschichtlichen Wissen des Kolonialismus. Historische Darstellungen, die Telegraphenkabel in natürlicher Symbiose mit Unterwasserpflanzen zeigen, sind daher beschönigende Illustrationen dieser kolonialen Mediengeschichte. Gegenwärtige Hochglanzinszenierungen ozeanischer Unterwasserwelten fungieren ähnlich ästhetisierend – mit dem Effekt, die Eroberung des Meeresraumes zu normalisieren und die politischen Dimensionen dessen zu anästhetisieren.[24]

Yan'Dargent, Férat et A. Mesnel, Câble télégraphique au fond de la mer, Illustration/Druck, aus Léon Sonrel, Le Fond de la mer (Paris: L. Hachette, 1868), 331. Quelle:

Yan’Dargent, Férat et A. Mesnel, Câble télégraphique au fond de la mer, Illustration/Druck, aus Léon Sonrel, Le Fond de la mer (Paris: L. Hachette, 1868), 331. Quelle: https://www.deichtorhallen.de/halle4/tiere-um-uns

Und wieder steht die Frage im Raum, welche Bilder auf die Selbstverharmlosung des Internets kritisch reagieren und im Sinne von Dekolonialisierung intervenieren. Mit Hilfe Tabita Rezaires Videoessay Deep Down Tidal aus dem Jahr 2017 mag eine Antwort gelingen. Die Künstlerin thematisiert die sich verflechtenden kolonialen Geschichten der Kabel, indem sie Bilder wie Schichten übereinanderlegt.

Tabita Rezaire, Deep Down Tidal, 2017, Videostill, HD-Video, 18:44 Min., © Tabita Rezaire, Courtesy Goodman Gallery, Südafrika

Tabita Rezaire, Deep Down Tidal, 2017, Videostill, HD-Video, 18:44 Min., © Tabita Rezaire, Courtesy Goodman Gallery, Südafrika

Diese Bild-Schichtungen lassen sich als Visualisierungen einer Geologie des digitalen Kolonialismus verstehen. Das heisst, indem Rezaire Schichtung visualisiert, wird Digitalität im Sinne von Gesteinsschichten und -ablagerungen begreiflich. Zusätzlich schafft sie aber, statt nur einer visuellen Erfahrung, einen mentalen Raum, der weit über ein spontanes Aufbegehren gegen koloniale Kontinuitäten hinausgeht.

Tabita Rezaire, Still aus Deep Down Tidal, 2017

Tabita Rezaire, Deep Down Tidal, 2017, Videostill, HD-Video, 18:44 Min., © Tabita Rezaire, Courtesy Goodman Gallery, Südafrika

Mit dem Schamanismus eines Schlangentanzes zum Beispiel adressiert sie einen Schwellenmoment des Bewusstseins, der ermöglicht, die in unsere Wahrnehmung eingelagerte «Kolonialität der Macht»[25] zu verlernen. Im atmosphärischen Bereich spiritueller Praktiken kann eingeübte Wahrnehmung verlernt werden. Sich für Empfindungsweisen zu öffnen, die über technikfixierte und rationalistische Erzähltraditionen digitalen Fortschritts hinausgehen, steht im Zentrum der Kunst Rezaires, ohne dass sie hierfür den Raum des Internets verlässt.

Archive des digitalen Kolonialismus
Neben dem Rohstoffabbau und der Schaffung von Infrastrukturen als Beispielen des digitalen Kolonialismus erleben wir mit der Archivierung eine weitere Form des Eingriffs in die an bestimmte Geografien gekoppelten Geologien. Um Open Source Software für zukünftige Generationen – gut gekühlt – zu bewahren, werden zum Beispiel durch das Unternehmen GitHub in einer stillgelegten Kohlemine im Permafrost, tief unter einem arktischen Berg im norwegischen Svalbard, Daten, die in Rahmen mit 8,8 Millionen Pixel verschlüsselt werden, auf gehärtetem Film gelagert.[26] Die Arktik – Lebensraum für die Samen, eine der sehr wenigen indigenen Communities Europas – ist aufgrund von Klimawandel und der freiwerdenden Seewege eines der neu zum Niemandsland erklärten Territorien. Unter dem Vorzeichen der Zukunftssicherung werden sie kolonisiert. Dafür wird zum einen im Werbefilm zum GitHub Arctic Code Vault ausgespart, von wem die Region besiedelt ist. Zwar wird auf die 1000 Polarbären verwiesen, nicht aber auf die Samen. Zum anderen – und dies wiederum wird mit Blick auf die Arbeit Arctic Archipelago von Susan Schuppli sichtbar – wird ein Landschaftsbild entworfen, das mehrheitlich unberührt und vor allem nicht vom Klimawandelt betroffen zu sein scheint.

GitHub, Arctic Code Vault, 2019, Videostill, YouTube, 13.11.2019, Quelle:

GitHub, Arctic Code Vault, 2019, Videostill, YouTube, 13.11.2019, Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=fzI9FNjXQ0o

Susan Schuppli, Svalbard Arctic Archipelago, aus der Serie LEARNING FROM ICE, 2021, © Susan Schuppli

Susan Schuppli, Svalbard Arctic Archipelago, aus der Serie LEARNING FROM ICE, 2021, © Susan Schuppli

Anders als bei Schuppli sehen wir weiss verschneite und vereiste Berge. Um die Zukunft der Digitalität zu sichern, werden Bilder geschaffen, die effektiv den mit Extraktion verkoppelten Kolonialismus aktualisieren, auch wenn er nicht direkt zu sehen ist.

In ihrer aktuellen Arbeit Not Planet Earth, or How to Denaturalise the Image? setzt Susan Schuppli der visuellen Naturalisierung kolonialer Gesten der Ausbeutung etwas entgegen. Anhand von Bildverfremdungen, zum Beispiel mittels einer Thermokamera, kehrt sie die Naturalisierung und Verharmlosung um. Mit der roten Verfärbung des Eises treten wir als Betrachter_innen so in einen kulturell erlernten Affektraum der Angst und Bedrohung. Die Bildmanipulation kann ein Mittel sein, uns an die Politik der Bilder des digitalen Kolonialismus heranzuführen, um uns angesichts des Glutpunkts zunehmend beunruhigt zu fühlen.

Susan Schuppli, Not Planet Earth or How to Denaturalise the Image?, 2021, Videostill, HD-Video, 14:24 Min., © Susan Schuppli

Susan Schuppli, Not Planet Earth or How to Denaturalise the Image?, 2021, Videostill, HD-Video, 14:24 Min., © Susan Schuppli

Bilder wie solche von Susan Schuppli ermöglichen, beunruhigt zu sein oder mit Donna Haraway gesprochen unruhig zu bleiben[27] angesichts eines sich in der Digitalität wiederholenden Kolonialismus. Auch die Fotografien von Zanele Muholi heben mit der Sprache der «Risse» das Moment hervor, das sich gegen die Betäubung bzw. anästhetische visuelle Kultur der Digitalität wendet. Tabita Rezaire wiederum schafft Bild-Sedimente, deren Übergänge nicht bruchlos funktionieren, sondern Gräben unserer Wahrnehmung artikulieren, die sich mit dem digitalen Kolonialismus wiederholen.[28] Die Aufgabe wird sein, diese Vorschläge als künstlerische Praktiken zu verstehen, die nicht im Widerspruch zum dekolonialen Aktivismus zum Beispiel indigener Gruppen liegen. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, diese Anschlussstellen an den visuellen Aktivismus von Kunst auch innerhalb digitaler Praktiken bezogen auf die Infrastrukturierung und Archivierung ausfindig und sichtbar zu machen, um sie mikroskopisch in die Gegenwart zu vergrössern.